Jedem Papageitaucher und jedem Schweinswal seine Sandaale
Jährlich wird mehr als ein Drittel des Weltfischereiertrags zu Fischmehl und weiter zu Tierfutter verarbeitet. Die industrielle Fischerei in Nordeuropa zielt dabei in erster Linie auf Arten ab, die nicht für den menschlichen Verzehr bestimmt sind und damit einen geringen Handelswert haben. Fische, die zu Fischmehl und Fischöl verarbeitet werden, verwendet man wiederum zur Fütterung in Aquakulturen, aber auch als Futtersupplement in der Schweine-, Lamm und Hühnerzucht.
Während Peru und Chile als weltweit größte Fischmehlproduzenten hauptsächlich Sardinen und Sardellen zu Fischmehl verarbeiten (und damit auch Europa beliefern), machen vor allem Norwegen und Dänemark in den stark überfischten europäischen Gewässern Jagd auf die stetig kleiner werdenden Schwärme der Sandaale (Familie Ammodytidae). Seit 1998 wird der Fang der Sandaale in Europa jedoch, zumindest ansatzweise, durch Quoten reglementiert.
Sind die Sandaale erst einmal im Schleppnetz, werden sie unter anderem im dänischen Esbjerg zu Fischmehl verarbeitet, welches die Grundlage der Herstellung von Pelletfutter für die Lachs-, Forellen- und generell Teichwirtschaft ist. In Dänemark hat sich für kommerziell minderwertige Fische wie den Sandaal, die für sich schon einen großen Anteil des üblichen, in Europa ungenutzt über Bord geworfenen Beifangs darstellen, der unschöne Name des „Gammelfisk“ eingebürgert.
Die geringe Wertschätzung des Sandaals durch den Menschen steht aber in starkem Kontrast zu der großen Bedeutung, die ihm in der Nahrungskette des Ökosystems Meer zukommt. Nicht nur den vielen Raubfischen wie Meerforelle, Kabeljau und Wittling, sondern auch den Schweinswalen in Nord- und Ostsee, dienen die Schwärme der kleinen Sandaale als wichtige Nahrungsquelle. Zur Brutzeit der Seevögel decken bestimmte Vögel, wie die Dreizehenmöwe und der Papageitaucher, ihren Nahrungsbedarf ebenfalls zu großen Teilen durch diesen kleinen Schwarmfisch.
Aufgrund der Klimaerwärmung hat sich die Nordsee in den letzten 45 Jahren doppelt so schnell erwärmt wie die Ozeane. Die Temperatur der Nordsee stieg um mehr als 1,67° C, die der Ozeane im Mittel nur um 0,74° C. Das hat nicht nur vor der schottischen Küste, sondern auch im Ärmelkanal und vor der französischen und nordenglischen Küste dazu geführt, dass die Zahl der Sandaale durch Abwanderung drastisch zurückgegangen ist.
Der Raubbau des Menschen an dem kleinen – für seinen Speiseplan eigentlich relativ unwichtigen – Fisch (denn selbst für die Lämmerzucht ist Fischmehl nicht notwendig und die Idee, aus wild gefangenem Fisch im Verhältnis 4 zu 1 Fischfutter für Zuchtfische herzustellen, entbehrt jeglicher nachhaltigen, ressourcenbewussten Logik) gefährdet zudem nicht nur den Sandaal, sondern auch viele seiner Räuber, z. B. Möwen, Alkenvögel oder Wale.
Der klimatische und durch die übermäßige Fischerei bedingte Rückgang der Sandaale in Nord- und Ostsee hat zur Folge, dass die in der Region beheimateten Schweinswale häufig verhungern. Bei diesen kleinen Delfinen (1,5 – 2 m, 55 – 65 kg) kommt es auf jeden Millimeter Speckschicht an, damit sie als Säugetiere in den kalten europäischen Wintern nicht unterkühlen. In der eisigen Nordsee sind sie besonders im Frühjahr (vor der Geburt ihrer Jungen) auf die Nahrungsaufnahme fettreicher Fische, wie Sandaal und Kabeljau, angewiesen. Beide sind jedoch nicht mehr wirklich auf der Speisekarte des Meeres zu finden.
Britische und schottische Forscher (McLeod et al. 2006) haben festgestellt, dass die Schweinswale in der Nordsee im Gegensatz zu ihren Artgenossen der Ostsee, die sich hauptsächlich vom akut vom Aussterben bedrohten Kabeljau ernähren, sehr unflexibel auf die Knappheit ihrer gewohnten Beute (Sandaale machen immerhin 19 % ihrer Nahrung aus) reagieren und nicht auf andere Fischarten umsteigen. Dieses Defizit an fettreicher Nahrung kann auch die aus den wärmeren Gefilden des Mittelmeers in die sich stetig erwärmende Nordsee eingewanderte nährstoffarme, mit den Seepferdchen verwandte, Fischart „Große Schlangennadel“ (Entelurus aequoreus) nicht kompensieren. Diese dringt in der Meeresartenhierarchie seit 2001 verstärkt in die Nische der stetig seltener werdenden Sandaale vor und vereinnahmt zunehmend das entsprechende Trophieniveau.
Der durch Klimaerwärmung und Überfischung bedingte massive Rückgang der Sandaale und die zunehmende Einnischung der Großen Schlangennadel in den nordischen Gewässern stellt für viele Seevögel – und hier besonders den Papageitaucher, aber auch die Dreizehnmöwe und den Eissturmvogel – ein existenzbedrohendes Problem dar.
Das fast exklusive Interesse des Lundis (Isländisch für Papageitaucher) an Sandaalen als Nahrung für ihre Jungtiere ist den Alkenvögeln, die die meiste Zeit des Jahres auf den Weltmeeren verbringen und nur zum Brüten an Land kommen, seit geraumer Zeit zum Verhängnis geworden.
Wie Katz (2004) in seiner Studie nachweist müssen die jungen Papageitaucher anstelle der nahrhaften Sandaale zunehmend mit der energieärmeren Großen Schlangenadel gefüttert werden. Das wirkliche Drama und die damit verbundene Tragik spielen sich in diesem Fall aber nicht wie bei den Schweinswalen auf dem offenen Meer ab, sondern versteckt in den Bruthöhlen der Vögel an Europas Küsten. Die bis zu 40 cm langen Großen Schlangennadeln können die Jungvögel im Gegensatz zu den nur bis zu 15 cm langen Sandaale nicht hinunterwürgen, was zur Folge hat, dass viele Küken in ihren Höhlen verhungern, während ihre Eltern verzweifelt versuchen, sie mit Großen Schlangennadeln zu füttern. In Folge dieser Entwicklung hat es in den letzten Jahren auf Island besonders auf den Westmännerinseln, die fast 50 % des weltweiten Bestands an Papageitauchern beherbergen, kaum flügge Exemplare gegeben – und auch in anderen europäischen Brutgebieten sind die Populationen rückläufig.
Nachdem der Papageitaucher vom IUCN jahrelang als Least Concern (nicht gefährdet) geführt worden war, wurde er 2015 aufgrund der gebietsweise stark schrumpfenden Populationen gleich um zwei Schritte auf Vulnerable (gefährdet) hochgestuft.
Thurid/Opitz/Froese (2019) formulierten auf der Basis einer Studie für das renommierte Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Geomar in Kiel jüngst die Forderung, dass dringend zusätzliche wissenschaftliche Studien durchgeführt werden müssen, um zu untersuchen in welchen Umfang ein Zusammenhang zwischen der intensiven Sandaalfischerei und den rückläufigen Tendenzen sowohl der Schweinswalpopulation als auch bestimmter Seevogelpopulationen in den deutschen Meeresgebieten der Nordsee besteht.
Fakt ist, dass übermäßiger industrieller Fischfang und absurde Verwertung-stechniken (Zuchtfisch frisst Wildfisch) nicht nur dazu beitragen, dass die überfischten europäischen Gewässer noch artenärmer werden als sie es ohnehin schon sind, sondern auch dazu, dass auch Vogelarten wie Islands Wappenvogel, der Papageitaucher, immer mehr in die Defensive geraten.
Der unbedachte und fehlinterpretierende Darwinist wird denken: „Sollen Schweinswale und Papageitaucher doch lernen, andere Fische zu fressen … oder eben aussterben“. Der nachhaltig-ökologisch denkende Mensch, der versucht, sein Leben in Richtung eines schonenden und nachhaltigen Umgangs mit natürlichen Ressourcen auszurichten, sollte hingegen maximal zweimal im Monat Meeresfisch aus nachhaltigem Fischfang essen (denn mehr geben unsere Weltmeere ohne eine neue, nachhaltige und ressourcenschonende Fischereipolitik beim besten Willen nicht her).
Auf keinen Fall sollte er aber Zuchtfisch aus Aquakulturen essen, der mit Produkten aus Wildfisch gemästet wurde. Man sollte sich in dieser Hinsicht ein Vorbild am Karpfen nehmen, der ein vornehmlich vegetarisch lebender Fisch ist und als Nahrung keine Futterpellets aus Meeresfisch anrührt.
Schlussendlich sollte man auf einer Island-Reise auf keinen Fall dem Reiz des Exotischen erliegen und einen Salat mit geräucherter Papageitaucher-brust, geschweige denn Zwergwalfleisch-Spieße à la „Moby Dick on a stick“ probieren. Sandaale gehören aufgrund ihrer wichtigen ökologischen Funktion in den Weltmeeren geschützt und der eindeutig kommerziell ausgerichtete isländische Walfang verstößt eklatant gegen das 1986 verabschiedete Moratorium der Internationalen Walfangkomission (IWC), das die kommerzielle Jagd von Walen international verbietet.
In diesem Sinne: Jedem Lundi und jedem Schweinswal seine Sandaale!
Colin D. McLeod et al. (2007): Linking sandeel consumption and the likelihood of starvation in harbour porpoises in the Scottish North Sea. Could climate change mean more starving porpoises?, in: Biology Letters (2007) 3, pp. 185-188.
Cheryl Katz (2014) for Environmental Health News (August 28, 2014): Iceland’s Seabird Colonies Are Vanishing, With “Massive” Chick Deaths. Climate and ocean changes blamed for huge losses of puffins, kittiwakes, and terns.
Thurid, Otto/Opitz, Silvia/Froese, Rainer (2019): Wie wirkt sich die Sandaalfischerei auf das marine Ökosystem in der südlichen Nordsee und das Erreichen der Schutzziele in den Naturschutzgebieten in der deutschen AWZ der Nordsee aus?, Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Geomar, Kiel.
One thought on “Jedem Papageitaucher und jedem Schweinswal seine Sandaale”
Toller Beitrag, mal wieder ein Nebeneffekt des Raubbaus an der Natur von dem man nichts hört, und den auch keiner interessiert solange man bequem und ignorant weitermachen kann…