Eine Hommage an den Karpfen (Cyprinus carpio)*
Der Botaniker Prof. Dr. Reinhold von Sengbusch (*16.02.1898 in Riga; † 13.06.1985 in Hamburg) war Direktor des Max Planck Institutes für Kulturpflanzenzüchtung in Hamburg-Volksdorf und einer der wichtigsten Zuchtpflanzenforscher der 20. Jhr.
Von den 1920er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein publizierte er zusammen mit seinen Kollegen <300 wissenschaftliche Artikel, sein Institut insgesamt <600 Artikel zur modernen Pflanzenzucht.
In den 1930er Jahren prüfte er nicht weniger als 1.5 Mio. Lupinenpflanzen, um eine Mutante zu finden, die arm an Bitterstoffen war und sich so als Viehfutter eignete. Durch seine Beharrlichkeit fand er sie schließlich auch. Sie machte ihn berühmt und reich. Auch die Gartenerdbeersorte Senga Sengana geht auf Von Sengbuschs Züchtungen der 1950er Jahre zurück. Im kommerziellen Anbau war sie in den 1960er und 1970er Jahren eine der am meisten angebauten Sorten in Europa. Heute wird sie meist für den Hausgarten oder für Selbstpflücker verwendet.
Was den stoischen Pflanzenzüchter aber zum Wahnsinn trieb, war die leidige Grätensuche beim Fischessen. In seinem Forschertrieb angespornt machte er sich in den 1960er Jahren auf die Suche nach einem (fast) grätenfreien Fisch. 1963 war er zu der Einsicht gekommen, dass die Gräten bei vielen Süßwasserfischen, besonders dem Karpfen (Cyprinus carpio), das primäre Hindernis für ihren kommerziellen Erfolg seien. Also je weniger Gräten ein Fisch hätte, desto erfolgreicher müssten auch seine wirtschaftlichen Vermarktungschancen sein.
Von Sengbusch stellte ein paar Aquarien in einem Gewächshaus auf und begann dem Karpfen und dessen leidigen Zwischenmuskelgräten, die den Konsum dieses äußerst schmackhaften Fisches zu einer wahren Bußübung auch außerhalb der Fastenzeit machen, züchterisch zu Leibe zu rücken.
Seine kulinarische Erfahrungen sagte ihm, dass es in der Natur zahlreiche Fischarten gibt, die den Menschen beim Fischkonsum nicht mit quer zu den normal liegenden Gräten quälten. Diese waren aus seiner Sicht also für die Stabilisierung des Fischkörpers nicht unbedingt notwendig und genau wie bei seinen Lupinen musste sich in der Natur doch auch eine Ausnahme unter den Karpfen finden lassen, wenn man nur ausgiebig genug nach dieser lukrativen Mutante suchte.
Wenn man invasiv bei dieser Suche vorgehen würde hätte man das Problem, dass sich die aufgeschnittenen Fische anschließend nicht mehr zur Zucht verwenden lassen würden. Von Sengbusch musste also einen anderen Weg finden. Zusammen mit dem Biologen Christoph Meske entwickelte er daher eine Art Röntgenfernsehgerät. Also im Endeffekt nichts anderes als einen Vorläufer eines modernen Nacktscanners mit dessen Hilfe man die Karpfen bis zu ihren Gräten durchleuchten konnte. 13.000 Karpfen wurden betäubt und erfolglos auf fehlende Zwischenmuskelgräten durchleuchtet. Der Folgeversuch eines mobilen Röntgengeräts, um die Fische direkt am Teich untersuchen zu können, scheiterte am Widerstand der Züchter, die Angst vor verstrahlten Fischen hatten.
Von Sengbusch war aber auch klar, dass er, wenn er denn fündig werden würde, auch ein Aquakultursystem entwickeln musste, mit dem er die Aufzucht seiner Zwischenmuskelgrätenfreien Karpfens vom Ei bis zum geschlechtsreifen Fisch kontrollieren konnte.
Als Pflanzenforscher gingen Meske und von Sengbusch glücklicherweise vollkommen unbedarft und unbelastet an die Entwicklung eines geschlossenen Wasserkreislaufs in ihren Zuchtbecken heran. Dem vorherrschenden Raumfaktor-Dogma der konventionellen Fischzüchter, die glaubten, dass Fische in kleinen Becken über eine gewisse Größe nicht hinauswachsen können, schenkten sie keine Beachtung und konzentrierten sich vielmehr darauf, dass das Wasser in den Zuchtbecken fortlaufend gereinigt und ausgetauscht wurde. Der Wassertausch (so weiß man heute) macht den Unterschied. Plötzlich wuchsen die Fische in ihren kleinen Becken, ungehemmt vom schmutzigen Wasser, über die natürlichen Zuchtmaße hinaus. Sie passten zudem die Wassertemperatur in den Zuchtbecken auf tropische 20°C an und schufen dem aus subtropischen Gefilden stammenden Karpfen im Gegensatz zu den kühleren Zuchtteichen ein ganzjähriges optimales Wachstumsklima. Im sauberen, gefilterten und temperierten Wasser der Zuchtbecken legten die Karpfen nicht nur 50 Gramm pro Jungtier und Jahr sondern <1,5 kg pro Jahr zu. Aus Erfahrungen mit temperierten Zuchtteichen in Japan gingen die beiden Forscher sogar dazu über die Fische im Kühlwasser von Kraftwerken aufzuziehen.
Zum Erstaunen höhnischer Fischzuchtexperten war es den beiden fachfremden Forschern zwar nicht gelungen einen von Zwischenmuskelgräten freien Karpfen zu züchten, sie hatten aber Pionierarbeit im Bereich der Aquakulturen mit geschlossen Wasserkreisläufen und der Warmwasser-Intensivhaltung von Zuchtfischen geleistet.
Der Fluch der Zwischenmuskelgräten und der Wunsch nach einem grätenfreien Fischgericht ließ von Sengbusch aber auch nach seiner Emeritierung 1968 nicht los.
Nach zähen Verhandlungen mit den Zollbehörden gelang es ihm 1973 den im Amazonas heimischen Beuteschnapper Arapaima gigas, der in Brasilien Pirarucu/Paiche genannt wird nach Deutschland zu importieren. Der <2,5 m lang und <200 kg schwer werdende größte im Süßwasser lebende Raubfisch der Welt ist er ein ausgesprochen schmackhafter und von Zwischenmuskelgräten komplett freier Speisefisch.
Erste Zuchterfolge schienen von Segenbuschs Wahl zu bestätigen. Im Frühjahr 1974 schwärmte er in einem Fachmagazin, dass die Zuwachsraten seines Amazonas Fisches alles übertrafen, was bislang von Süßwasserfischen in temperierter Intensivhaltung bekannt war, allerdings kamen seine norddeutschen Zuchtfische bei weitem nicht an die Wuchsleistungen der Fische in freier Natur heran.
Trotz des unschätzbaren kulinarischen Wertes der Arapaima-Steaks setzte der neue Zuchtfisch nie zum Siegeszug in die Kühlregale an. Den Züchtern gelang es im Gegensatz zum handzahmen Karpfen nie den Räuber Amazoniens wirklich zu bändigen. Alle Zuchttiere starben aus unerfindlichen Gründen bevor sie sich fortpflanzen konnten. In freier Natur beanspruchen Pirarucu-Paare ein Territorium von <500 m², das sich auch durch Zucht nicht wirklich verkleinern lässt. Statt sich der nicht artgerechten Haltung in den Zuchtbecken zu beugen sprangen viele von ihnen trotz der Schutznetze anscheinend lieber in den Tod und aus dem Becken heraus. Der letzte Paiche aus von Sengbuschs Zucht zog 1985 nach dessen Tod in das Berliner Aquarium um, wo er 1995 starb. Zwei daraufhin neu angeschaffte Arapaima gigas haben sich bis zum heutigen Tage nicht vermehrt.
Aufgrund fehlender Bestandszahlen wird der Arapaima gigas bisher noch nicht in der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN) geführt. Die Art ist jedoch wegen ihrer zurückgehenden Bestände im Washingtoner Artenschutzübereinkommen CITES in Anhang II gelistet, wodurch der internationale Handel reguliert wird. Damit dürfte der Arapaima gigas auch als zukünftiger Speisezuchtfisch ausscheiden. Neben der Überfischung ist der großflächige Eintrag von Pestiziden, Quecksilber, Öl und anderen Schadstoffen in die Gewässer des Amazonasgebietes das größte Problem für die Art.
Was bleibt ist der Karpfen (Cyprinus carpio) als ein nach wie vor hervorragender, was sein Habitat und sein Fressverhalten angeht, äußerst anspruchsloser und einfach zu haltender Zuchtfisch, der aber auch weiterhin den Gaumen des Mitteleuropäers mit seinen Zwischenmuskelgräten quälen wird.
Sein Ruf als fettiger Fisch, sowie sein selbst unter Gourmets umstrittener Geschmack (von schlammig bis nussig) und seine variable Konsistenz (beides hängst sehr stark von den Haltungsbedingungen und der verwendeten Zufütterung ab) wird aber wahrscheinlich zudem dazu beitragen, dass der Karpfen, abgesehen von seiner Verwendung als mancherorts beliebter Weihnachts- und Silvesterfisch, in näherer Zukunft nicht zum beliebtesten Speise- und Zuchtfisch Deutschlands wird. Daran dürften wohl auch bislang nur mäßig erfolgreiche Vermarktungsformen wie Karpfen-Fischstäbchen, nichts ändern.
Eigentlich ist es aber auch ganz gut so, dass der Karpfen Zwischenmuskelgräten besitzt. Vielleicht bewahrt diese Erfindung der Natur ihn vor dem, was fast allen seinen wohlschmeckenden und leicht zu filetierenden Kollegen in der Fischwelt, die nicht über diese, den Menschen abschreckenden Mechanismen verfügen, anheim fällt: Eine existenzbedrohende Überfischung und Ausbeutung.
Im Sinne der Erholung der Fischbestände der Weltenmeere sollte man althergebrachte Vorurteile gegen den Karpfen beiseite räumen und hin und wieder einmal in den Monaten September bis April (denn Karpfen isst man wie Muscheln nur in den Monaten mit einem „r“) zu einem guten deutschen Zuchtkarpfen aus einer Bio-Aquakultur in der Nähe greifen. Diesen sollte man im besten Fall lebendig kaufen, in der heimischen Badewanne noch einmal auswässern, damit er seinen schlammig-erdigen Beigeschmack verliert (was bei Zucht-Karpfen aus geschlossenen Kreisläufen nicht notwendig ist) und sich mit einem old-school Fischbesteck der Gaumenfreude eines phantastischen Zuchtfisches hingeben. Das Beste dabei, man kann sich so ohne Probleme von zweifelhaften und ökologisch problematischen exotischen Trend-Zuchtfischen wie dem Pangasius und schlimmer noch, Antibiotika verseuchten Zuchtgarnelen fernhalten. In diesem Sinne: Eine Hommage an den Karpfen.
*Große Teile dieses Artikels basieren auf dem Artikel „Wie ein Erdbeerzüchter auf den Fisch kam“, der am 21.02.2010 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auf Seite 58 veröffentlicht wurde.